In vielen Agenturen – egal ob sie sich auf Werbung, PR oder Marketing spezialisiert haben – klagen die Mitarbeiter seit Jahren über den stetig steigenden Stress. Oft liest oder hört man von Beratern, die aufgrund der hohen Kundenzahl und deren Ansprüchen die Liebe zu ihrem Job verlieren. Was man dagegen tun kann, verrät Céline Freund, Heilpraktikerin für Psychotherapie und hypnosystemische Therapeutin, die in ihrer Praxis bereits viele ähnliche Fälle betreut hat.
Aus Deiner täglichen Arbeit: Ist festzustellen, dass sich die Menschen immer stärkerem Stress ausgesetzt fühlen? Welche Gründe hat dies?
Stress ist Teufelszeug und Megatrend gleichzeitig. Bei genauerer Betrachtung ist die Volkskrankheit Stress eine echt feine Sache, denn immer nur über das Wetter zu reden, ist ja auch blöd. Stress ist schick, weil man scheinbar etwas leistet. Er pimpt unser Ego, man ist Held der Arbeit, superwichtig! Und er ist auch eine tolle Ausrede, um Termine abzusagen, auf die man keine Lust hat oder um mal richtig aus der Haut zu fahren und den Partner anzumotzen. Und Ärzte haben endlich eine Erklärung für Erkrankungen, die keine nachweisbaren Ursachen haben. Ist halt Stress.
Und weil Stress so eine feine Sache ist, haben ihn tatsächlich alle. Ich glaube ich kenne niemanden, der ihn nicht hat. Weder in meinem privaten noch in meinem beruflichen Umfeld. Kinder haben Freizeitstress. Ebenso Renter, man denke nur an die Supermarktkasse. Schüler – auch die Kleinsten – und Studenten haben Notenstress. Arbeitslose haben Bewerbungsstress. Eltern haben Stress ihre Work Life Balance zu regeln… Die Figur stresst. Der Garten stresst. Autofahren stresst. Fahrrad und U-Bahn auch. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Tja, und des Übels Wurzel? Ich würde jetzt gerne sagen, dass es diese eine Ursache ist, die für alles verantwortlich ist. Zu verlockend ist der Gedanke eines Sündenbocks, der Schuld an unserem Stress ist. Beliebt sind ja der Chef, Kollegen oder Kunden, die Meetingkultur, die Dauererreichbarkeit, steigendes Tempo, Druck oder Ziele etc. Wenn gar nichts mehr geht, ist die Gesellschaft oder das System Schuld, dass wir uns zunehmend gestresst fühlen. Und sicherlich hat sich unsere Welt verändert. Das tut sie schon immer. Jeden Tag aufs Neue.
Und jetzt kommt die beste Nachricht: Keiner macht uns Stress – außer uns selbst! Das beste Beispiel berichtete mir kürzlich eine Klientin, als sie zur Entspannung angefangen habe zu meditieren. Das hätte sie dann aber so gestresst, weil ihr Kopf einfach nicht ruhig werden wollte, weshalb sie sich über sich selbst geärgert habe. Das zeigt sehr schön, dass wir unheimlich mächtig sind und die Situationen selbst hervorragend kontrollieren können. Selbst dann, wenn wir das Gefühl haben, dass unser Kalender unseren Tag bestimmt und das Unternehmen zu viel erwartet. Wir können IMMER entscheiden, wie wir eine Situation bewerten und was wir damit tun.
Wenn es also eine Ursache gibt, die uns stresst, dann sind wir es selbst. Wir selbst mit unseren Erwartungen und Anforderungen, die wir an uns stellen. Wir haben uns eine Art „Ideal-Ich“ aufgebaut, wie wir gerne sein möchten oder glauben sein zu müssen, um gemocht, anerkannt, respektiert, erfolgreich zu werden. Entspricht dieses Bild nicht dem, wie wir wirklich sind, unserem „Real-Ich“, entsteht eine Diskrepanz, die uns bereits stresst, weil sie nicht unseren „Normen“ entspricht. Denn wer empfindet sich schon gern als minderwertig? Und der Stress nimmt noch zu, weil wir bei den Versuchen die Diskrepanz zu schließen auch noch gegen unsere Natur gehen.
Das ist eine tolle Nachricht, denn wir haben es damit in der Hand! Ein Teufelskreis, den wir selbst durchbrechen können.
Gibt es eine einfache Übung, um sich einmal bewusst aus einer Stresssituation zu ziehen?
Als hypnosystemische Therapeutin arbeite ich mit meinen Klienten in Coaching und Therapie ganz individuelle Lösungen aus. Das ist wichtig, denn wir sind unheimlich komplexe und intelligente Wesen und was bei Klient A funktioniert, muss nicht zwangsläufig bei Anderen klappen. Ein Beispiel:
Eine Klientin von mir macht beim kleinsten Anflug von Stressempfinden eine Körperbewegung, nämlich die Beckerfaust und sagt sich dabei „YES! Danke lieber Stress!“ Dann steht sie wirklich sofort auf, zieht ihre Jacke an und geht auf dem Grünstreifen vor ihrem Büro spazieren. Es klingt verrückt, aber ihr hilft es, denn sie fühlt sich dabei rebellisch und freut sich diebisch über ihren Ausriss. Das dauert insgesamt Zehn Minuten und danach ist sie komplett frisch und kann wieder voll reinhauen.
Die Idee, die dahinter steckt, ist die: Stressgefühle sind ein sehr wichtiger Hinweis dafür, dass wir gerade etwas brauchen. Deshalb sollte der „Stressmacher“ nicht weggewischt werden. Das kann man sich wie einen Wasserball vorstellen, den man mit voller Wucht unter Wasser zu drücken versucht… er kommt früher oder später mit noch mehr Kraft hochgeschossen. Statt den Stress also wegzudrücken, kann man ihn wie einen guten Freund betrachten, der uns einen liebvollen Hinweis gibt. (Akzeptieren des Real Ichs)
Im zweiten Schritt braucht es eine Handlung, die uns ein positives Gefühl vermittelt. Das kann manchmal etwas Mut erfordern, denn hier geht es darum, es dann auch wirklich zu tun. Und das am besten noch mit ganz viel Freude. Warum? Das Prinzip nennt man reziproke Hemmung, was so viel heißt wie: Es geht nur eins von beidem. Wir können nicht lachen und gleichzeitig Stress empfinden.
Ein Beispiel: Wir fühlen uns gestresst, weil wir den ganzen Tag in Meetings gesessen haben und nun ein Stapel Arbeit auf uns wartet. Wir freuen uns über den Stressimpuls und überlegen: Was brauche ich jetzt? Und dann kommt der Gedanke „Eine Pause zum Durchschnaufen“, dann brauchen wir den Mut, uns genau das jetzt zu geben, obwohl Kollege Müller schon ganz komisch schaut und der Tisch sich unter der Arbeit biegt.
Und auch hier hilft es, sich den Stress als Freund vorzustellen, den sie ja auch nicht einfach à la „Jetzt hau mal ab“ wegschieben würden. Suchen sie sich etwas aus, das ihnen jetzt wirklich Spaß macht. Es wäre schön blöd, wenn sie sich jetzt noch eine Aufgabe mehr aufdrücken, die ihrem vernünftigen Ideal-Ich entspringt und zusätzlich belastet. Also: Kreieren Sie stattdessen Ihr eigenes Ritual. Das kann etwas Verrücktes sein wie ein Handstand auf der Toilette, bei verschlossener Bürotür mit Ohrstöpseln abtanzen, den Flur zum Kopierer runterhopsen, den Stinkefinger kopieren oder Ähnliches. Wem das zu krass ist, der kann auch einfach bewusst im Stuhl zurückfallen, sich zwei bis drei Minuten mit geschlossenen Augen erholen, bewusst atmen oder einfach mal die Hände waschen gehen und dabei den Stress gedanklich abwaschen. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.
Gibt es geschlechtsspezifische Trends in Bezug auf den Stress?
Laut Statistik weisen Frauen insgesamt mehr Krankentage aufgrund von psychischen Erkrankungen auf als Männer. Und auch die Burnout Raten sind bei Frauen höher als bei Männern. Ich muss aber ganz ehrlich sagen, dass ich in meiner Praxis keine wirklich großen Unterschiede im Stresserleben der Geschlechter ausmachen könnte. Das einzige ist vielleicht, dass Frauen eher dazu neigen, Ursachen bei sich zu suchen und dadurch sensibler für ihre Grenzen sind und ihre Strategien eher überdenken. Das würde auch die statistischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern erklären. Vielleicht holen Frauen sich einfach eher Hilfe.
Es gibt nicht nur Stress, der aus den Kundenansprüchen resultiert, sondern auch aus dem direkten Arbeitsumfeld. Was kann man tun, wenn schlechte Stimmung im Büro die Atmosphäre stört?
Im Prinzip ist ja jeder Mensch nur ein Spiegel von uns selbst. Das heißt nicht nur, dass das, was mich an dem Anderen stört eigentlich ein Teil von mir selbst ist. Blöd ist auch, dass unsere Reaktion gegenüber dem Anderen nicht nur gegen ihn geht, sondern dann auch noch unterbewusst gegen uns selbst. Der alte Spruch: „Was du nicht willst, das man dir tut…“ hat da schon seine Berechtigung. Und doch gibt es eben schwierige Situationen, wenn man so viel Zeit miteinander verbringt, wie nicht einmal mit dem eigenen Partner.
Ich habe eine absolute Lieblingsübung im Umgang mit schwierigen Menschen. Die können sie auch mit Ihrem Partner, Freunden, Kindern und überhaupt allen Menschen machen. Wann immer sie das Gefühl haben, dass sie Ihr Gegenüber jetzt gerne aus dem Fenster werfen möchten, halten sie inne, schweigen sie und beantworten sie sich die Frage: Warum mag ich Dich?
Im ersten Moment fällt uns vielleicht nichts ein, aber ich verspreche ihnen, je länger sie dran bleiben und so mehr sie üben, desto leichter wird es. Für alle diejenigen, die jetzt das Gefühl haben, dass sie sich damit selbst verarschen, sei gesagt, dass sie Recht haben. Und trotzdem funktioniert ist. Denn auch hier gilt: Wir können nicht etwas Positives denken und dabei schlechte Gefühle haben. Und letztendlich ist schlechte Laune ja für uns selbst am schädlichsten. Da darf man sich schon das ein oder andere Mal verarschen.
In einem Seminar berichtete ein Klient, dass er aber einen Kollegen habe, den er wirklich hassen würde. An dem könne er nicht mal die Socken mögen. Was tun? „Ich mag sich, weil du meine größte Herausforderung bist!“.
Stichwort Work-Life-Balance. Wie muss diese aus Deiner Erfahrung aussehen, um für einen ausgeglichenen und zufriedenen Mitarbeiter zu sorgen?
Was heißt denn ausgeglichen und zufrieden? Und wer ist für den Zustand verantwortlich? Der Mitarbeiter selbst? Oder das Unternehmen? Das ist eine spannende Frage!
Meiner Meinung nach kann es sich heute kein Unternehmen mehr leisten, ihre Mitarbeiter nur noch als reine Arbeitskraft zu betrachten, die wie Ponys im Kreis laufen und einfach nur ihren Job machen. Das hat natürlich ethische Gründe, aber auch wirtschaftliche. Denn betrachte ich meine Mitarbeiter ganzheitlich als Menschen, entdecke ich vielleicht Fähigkeiten und Eigenschaften, die mir mit der reinen Funktionsbrille entgangen wären. Ganzheitlich heißt hier, dass ich mich ernsthaft mit ihm auseinandersetze, ihn in seinen Stärken fördere und dementsprechend einsetze. Damit entsteht logischerweise auch ein Zugang zu einem wesentlich größeren Kompetenzpool. Das erfordert eine Unternehmenskultur, die von Wertschätzung, Offenheit und Kreativität geprägt ist, aber auch von Strukturen, die ausreichend Flexibilität ermöglichen. Ich denke, dass Unternehmen sich insgesamt viel mehr Gedanken darüber machen sollten, was ihre Mitarbeiter strukturell und kulturell brauchen, um zufrieden zu sein, denn dann machen sie einen guten Job!
Und gleichzeitig ist es schade, wenn sich Mitarbeiter einfach nur im Stuhl zurücklehnen und darauf warten, dass das Unternehmen die Spielregeln ändert. So oder so dürfen wir uns als Mitarbeiter ruhig mal die Frage stellen, was wir denn eigentlich brauchen, um ausgeglichen und zufrieden arbeiten zu können. Zu oft erlebe ich es, dass der „Stil des Hauses“ als gegeben akzeptiert wird und Mitarbeiter der Meinung sind, dass sie da nun überhaupt nichts machen können. Sie fühlen sich ohnmächtig, also ohne Macht. Doch das stimmt häufig gar nicht und wir haben viel mehr Handlungsspielraum als wir denken. Statt also einfach nur die Hände in den Schoß zu legen, können wir selbst überlegen, was wir brauchen und wie wir es in den vorgegebenen Rahmen mit Spaß umsetzen können.